Zuwendung zur Geschichte

1912-17 Als Kaiser Meiji im Juli 1912 nach über vierzigjähriger Regierungszeit verstirbt und General Nogi in der Folge den Freitod wählt, zeichnet sich – wie bei vielen japanischen Intellektuellen − eine Phase der Neuorientierung ab. Mori wendet sich der Geschichte zu und beginnt in historischen Erzählungen die conditio humana im vormodernen Japan auszuloten. Gegen Ende der Phase schreibt er die erste seiner historischen Biographien, die sich bevorzugt konfuzianischen Gelehrten und Medizinern zuwenden. Zugleich setzt Mori mit ungebrochener Energie die Übersetzung klassischer und moderner europäischer Literatur fort. Allein im Jahr 1913 erscheinen seine wegweisenden Übertragungen von Shakespeares Macbeth, Ibsens Nora sowie beider Teile von Goethes Faust. Auch sein Kompendium der Hygiene wird für die Neuauflage in dieser Phase bedeutend erweitert. Noch 1915 reicht er sein Abschiedsgesuch beim Heeresministerium ein, dem im folgenden Jahr stattgegeben wird.

Erinnerungen und Gedanken

“Das Alter rückt immer näher. Wenn das Licht der Hoffnung vor uns schwächer wird, blicken wir auf die Gestalten hinter uns zurück. Das ist allgemein menschlich. Mit zunehmendem Alter wird der Mensch retrospektiv.”

Ōgai - Zwischenbilanz / Nakajikiri (1917). Übers. W. Schamoni

“Ich habe Medizin gelernt und habe damit dem Staat gedient. Aber ich bin als Arzt bisher noch nie gesellschaftlich besonders beachtet worden. In einem [meiner] chinesischen Gedicht[e] heißt es: ‘Unentschlossen nutzloser Arbeit hingegeben/ Meine größte Leistung: ich wurde nicht strafversetzt.’”

Ōgai - Zwischenbilanz / Nakajikiri (1917). Übers. W. Schamoni

“In der Geschichte führte mich mein Lebenslauf und Zufall dazu, daß ich anderer Leute Biographien schrieb – obgleich ich selbst nicht erwartet hatte, daß ich mich je an so etwas machen würde. Daß ich dabei in Bezug auf die Form die trockene genealogische Richtung einschlug, geschah vielleicht unter dem Einfluß der Naturwissenschaft, welche ja Zola veranlaßte, das Erbe der Rougon[-Macquart] zu verfolgen.”

Ōgai - Zwischenbilanz / Nakajikiri (1917). Übers. W. Schamoni

“Wenn ich mir Stellen in meinen Übersetzungen ansehe, die als fehlerhaft bezeichnet wurden, dann nicke ich nur äußerst selten zustimmend. Das Übersetzen von Romanen und Stücken unterscheidet sich nun einmal von philologischen Studien. Es ist nicht damit getan, einfach die Worte eines nach dem anderen zu übersetzen und aneinanderzureihen. Deshalb kümmert es mich auch keineswegs, selbst wenn man kritisiert, dass sich ein von mir eigens hinzugefügtes Wort nicht im Original finde, oder wenn man mir vorhält, dass ein absichtlich weggelassener Ausdruck dort stehe.”

Ōgai - Zum Übersetzen / Honʼyaku ni tsuite (1914). Übers. H. Salomon

“Wenn Sie mich fragen, warum [meine historischen Erzählungen sich von den Werken anderer Autoren unterscheiden], so sind die Gründe dafür einfach genug. Beim Studieren historischer Dokumente begann ich die ‘Natur’ wertzuschätzen, die ihnen entnommen werden kann. Und es widerstrebte mir zunehmend, diese willkürlich zu ändern. Das ist mein erstes Motiv. Wenn ich außerdem sah, wie gegenwärtige Autoren über ihr eigenes Leben [ungeschönt] schreiben, wie es ist, dachte ich, es müsse gleichfalls angehen, über die Vergangenheit so zu schreiben, wie sie war. Das ist mein zweites Motiv.”

Ōgai - Rekishi sono mama to rekishi banare (1915). Übers. H. Salomon

Biographische Ereignisse

1912

30. Juli 1912: Im 45. Jahr seiner Regierung verstirbt Kaiser Meiji; der Thronfolger wählt die Jahresdevise Taishō (“Große Gerechtigkeit”). [“Ableben des Kaisers von Japan”, Nord­deutsche Allgemeine Zeitung]
13. September: Am 13. des Monats wählen General Nogi Maresuke und seine Gemahlin den Freitod, als der Beerdigungszug für Kaiser Meiji ihr Anwesen im Zentrum Tokyos passiert. [“Selbstmord General Nogis am Sarge Kaiser Mutsuhitos”, Vossische Zeitung]
  • Die Zeitschrift Chūō kōron (“Zentrales Debattenforum”) schreibt Mori und weitere Vertreter des kulturellen Lebens an und bittet um Reaktionen auf den Freitod des Ehepaares Nogi. Mori verfasst seine erste historische Erzählung: “Das Testament des Okitsu” (Okitsu Yagoemon no isho).
  • Oktober: “Das Testament des Okitsu” wird in Chūō kōron veröffentlicht. [→ Übersetzungen]
  • Dezember: Im Auftrag des Büros für militärische Angelegenheiten im Heeresministerium, General Tanaka Gi’ichi, verfasst Mori ein Memorandum über die Erweiterung des Heeres um zwei Divisionen.
  • Entwurf der Satzung für eine nationale Vereinigung der Bildenden Künstler Japans.
  • Berufung in den Untersuchungsausschuss zur 4. Revision des staatlichen Arzneibuchs (Nippon yakkyoku hō).

1913

  • Januar: Die historische Erzählung Abe ichizoku (“Das Haus Abe”) über das Motiv des “Folgens in den Tod” (junshi) wird in der Zeitschrift Chūō kōron veröffentlicht.
    [→ Übersetzungen]
  • Die Übersetzung von Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil erscheint beim Verlag Fuzan Bō; die Veröffentlichung des zweiten Teils folgt im März.
  • März: Beide Teile der Faust-Übertragung werden im Kaiserlichen Theater (Teikoku Gekijō) - Tokyos größter Bühne - vor vollem Haus aufgeführt. Es handelt sich um die zweite Produktion der Gesellschaft für moderne Stücke (Kindai Geki Kyōkai), die von Tsubouchi Shōyō und Mori beraten wird.
  • April: Die Zeitschrift Chūō kōron bringt die historische Erzählung über den Attentäter Sahashi Jingorō heraus, der im Auftrag des Shogun Tokugawa Ieyasu einen Mord verübt. [→ Übersetzungen]
  • Juni: Die New York Times (22.6.1913) informiert über Moris abschließenden Bericht zum japanischen Heeressanitätswesen im Krieg gegen Rußland.
  • Juli: Shakespeares Macbeth erscheint in der Übersetzung Moris beim Verlag Keiseisha Shoten. Um der Bitte der Gesellschaft für moderne Stücke zu entsprechen, nutzte Mori die deutsche Version von Heinrich Voß.
  • September: Macbeth in Moris Übertragung wird im Kaiserlichen Theater (Teikoku Gekijō) aufgeführt. Wiederum zeichnet die Gesellschaft für moderne Stücke für die Produktion verantwortlich. Die New York Times (26.10.1913) berichtet über das Ereignis.
  • Oktober: Erscheinung der historischen Erzählung “Rache auf der Ebene des Tempels Gojiin” (Gojiingahara no katakiuchi) in der Zeitschrift Hototogisu (“Kuckuck”).
    [→ Übersetzungen]
  • November: Unter dem Titel “Nora” kommt Moris Übertragung von Ibsens Et dukkehjem beim Verlag Keiseisha Shoten heraus.
  • Veröffentlichung der “Studie über Faust” (Fausuto kō) beim Verlag Fuzan Bō. Sie basiert auf Goethes Faust des Heidelberger Philosophen Kuno Fischer.
  • Im selben Verlag erscheint “Goethe. Eine Biographie” (Gyōte den). Das Werk basiert auf Goethe. Sein Leben und seine Werke des Literaturwissenschaftlers Albert Bielschowsky.

1914

August 1914: Der Erste Weltkrieg bricht aus. Die japanische Regierung tritt auf der Seite der Alliierten in den Krieg ein und strebt die Übernahme der Gebiete unter deutscher Verwaltung in Ostasien und im Pazifik an. [“Die Abweisung des japanischen Ultimatums”, Berliner Tage­blatt]
September 1914: Die Belagerung der Stadt Qingdao beginnt (Kapitulation am 7. November). [“Der Fall von Tsingtau”, Allgemeine Zeitung]
  • Januar: Die historische Erzählung Ōshio Heihachirō erscheint in Chūō kōron. Sie befasst sich mit dem Leben des neo-konfuzianischen Gelehrten (1793-1837), der 1837 einen Aufstand gegen das Shogunat anführte. [→ Übersetzungen]
  • Mai: Mori begibt sich auf eine Inspektionsreise in den Norden des Landes. Die Erfahrungen in Sendai, Morioka, Sapporo, Asahikawa, Hirosaki und Yamagata sind in den “Aufzeichnungen einer Reise nach Norden” (Hokuyū ki) festgehalten.
  • Die fünfte, überarbeitete Auflage seines Neuen Kompediums der Hygiene erscheint.
  • Oktober: Takeishi Kōzaburō beendet die Arbeit an einer in Marmor ausgeführten Büste Moris. Das Objekt wird im Garten des Familienheims aufgestellt.

1915

Januar 1915: Der japanische Premierminister übermittelt 21 Forderungen an den Präsidenten der Republik China. Die Forderungen erstrecken sich auf die ehemals dem Deutschen Reich eingeräumten Rechte, den Einfluss in der südlichen Mandschurei und der Inneren Mongolei und die Mitsprache in politischen und militärischen Angelegenheiten. [“Japan’s Politik in China”, Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung]  
  • Januar: Die historische Erzählung Sanshō Dayū erscheint in Chūō kōron. Sie basiert auf einer buddistischen Lehrerzählung und thematisiert die Erfahrung von Gewalt und Zwang bzw. die Möglichkeit, ihnen zu widerstehen. [→ Übersetzungen]
  • Mit dem Beitrag “Geschichtstreue und Geschichtsferne” (Rekishi sono mama to rekishi banare) erläutert Mori in der Zeitschrift “Blüten des Herzens” (Kokoro no hana) sein Verständnis historischer Fiktion. [→ Übersetzungen]
  • Die Anthologie “Erzählungen aus verschiedenen Ländern” (Shokoku monogatari) mit bereits erschienenen Übersetzungen europäischer Erzählungen kommt heraus. Mori verstärkt seine Bemühungen, verstreut erschienene Texte zusammenzufassen.
  • April: Mori erhält den “Orden der Heiligen Schätze” (Zuihōshō), 1. Verdienstklasse, der hochrangigen Offizieren und Beamten für besondere Verdienste verliehen wird.
  • August: Er wird Mitglied des “Auswahlgremiums für Bildende Künsts” (Bijutsu Shinsa Iinkai).
  • Oktober: Mitgliedschaft in der “Kommission für die Ermittlung von Verdiensten im [Ersten Welt]krieg”.
  • November: Er begibt sich nach Kyoto, um an der Zeremonie zur Krönung des Kaisers Taishō teilzunehmen. Seine Aufzeichnungen zu dem Ereignis werden in den Tageszeitungen Tōkyō Nichinichi und Ōsaka Mainichi veröffentlicht.
  • Er reicht sein Abschiedsgesuch beim Heeresministerium ein.

1916

Dezember 1916: Der Schriftsteller Natsume Sōseki verstirbt im Alter von fünfzig Jahren.
  • Januar: “Der Takase-Kahn” (Takasebune) erscheint in der Zeitschrift Chūō kōron. Im Medium der historischen Erzählung lotet Mori die Frage der Euthanasie aus.
    [→ Übersetzungen]
  • Der Text über die legendären chinesischen Hermiten “Han-shan und Shih-te” (Kanzan Jittoku) wird in Shin shōsetsu (“Neue Erzählungen”) veröffentlicht. [→ Übersetzungen]
  • Die fortlaufende Veröffentlichung der historischen Biographie des Arztes und konfuzianischen Gelehrten Shibue Chūsai (1805-58) in den Tageszeitungen Tōkyō Nichinichi und Ōsaka Mainichi setzt ein (bis Mai).
  • März: Seine Mutter Mineko verstirbt.
  • April: Mori wird von seinen Ämtern als Generaloberstabsarzt des Heeres und Leiter der Medizinalabteilung im Heeresministerium entbunden. Er wird Offizier der Reserve.
  • Seine Tochter Anne kommt in die Grundschule.
  • Mai: Nachdem er von seinem Amt als Leiter der Sonderkommission zur Untersuchung der Beriberi-Krankheit entbunden ist, wird er als außerordentliches Mitglied bestellt.
  • Die Übersetzung von Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel (1773) erscheint beim Verlag Mita Bungakukai.
  • Juni: Beginn der fortlaufenden Veröffentlichung der historischen Biographie des Arztes und konfuzianischen Gelehrten Izawa Ranken (1777-1829) in den Tageszeitungen Tōkyō Nichinichi und Ōsaka Mainichi (bis September 1917). Für die Zeitgenossen sind autobiographische Bezüge deutlich.
  • August: Mori wird Mitglied im “Auswahlgremiums für Bildende Künste” (Bijutsu Shinsa Iinkai).
  • November: Der älteste Sohn Oto heiratet.

1917

  • April: Der jüngste Sohn Rui kommt in die Grundschule.
  • September: In der Zeitschrift Shiron (“Meinungen”) erscheint der autobiographische Text “Zwischenbilanz” (Nakajikiri). [→ Übersetzungen]
  • Erneute Berufung in das “Auswahlgremium für Bildende Künste” (Bijutsu Shinsa Iinkai).
  • Dezember: Berufung zum Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und zum Leiter der Bibliothek des Kaiserlichen Hofministeriums.

Quellen

  • “Ableben des Kaisers von Japan”, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 177, 31. Juli 1912: 1. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • “Die Abweisung des japanischen Ultimatums”, Berliner Tageblatt 427, 24. August 1914: 1. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • Bowring, Richard John: Mori Ōgai and the Modernization of Japanese Culture, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1979.
  • “Der Fall von Tsingtau”, Allgemeine Zeitung 46, 14. November 1914: 668 [digiPress - Bayerische Staatsbibliothek]
  • “Japan’s Politik in China”, Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 40, 22. Januar 1915: 3. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • Kobori Kei’ichirō: Mori Ōgai: Nihon wa mada fushinchū da (Mori Ōgai: Japan is still under construction), Minerva Shobō 2013.
  • “Nenpu” (Chronik), Ōgai zenshū, vol. 38, Iwanami Shoten 1975: 545–58.
  • Rimer, J. Thomas: Mori Ōgai, Boston: Twayne Publishers 1975.
  • Schamoni, Wolfgang: Mori Ōgai: Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur, München: Bayerische Staatsbibliothek 1987.
  • “Selbstmord General Nogis am Sarge Kaiser Mutsuhitos”, Vossische Zeitung 468, 14. September 1912: 1–2. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • Yamasaki Kuninori: Hyōden Mori Ōgai (A critical biography of Mori Ōgai), Taishūkan Shoten 2007.
Zitierhinweis – Harald Salomon: “Mori Rintarō, alias Ōgai (1862–1922). Zuwendung zur Geschichte”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 15. Dezember 2020. URL: https://www.ogai.hu-berlin.de/biographie-geschichte.html