Kindheit in Tsuwano

1862-72 Mori wird am 17. Februar 1862 in der Burgstadt des Fürstentums Tsuwano (heutige Präfektur Shimane) als erstes Kind seines Vaters Shizuo (Geburtsname Yoshitsugu, 1836–96) und seiner Mutter Mineko (1846–1916) geboren. Er erhält den Namen Rintarō. Die Familie zählt zur Statusgruppe der Samurai und stellt seit Generationen die Leibärzte des Fürstenhauses Kamei. Der Vater Shizuo war in die Familie adoptiert und der Tochter des Hauses zum Ehemann gegeben worden. Im Haushalt lebt auch die Großmutter Kiyoko, doch es ist vor allem die junge Mutter, die sich energisch um die Erziehung ihres Sohnes kümmert. Rintarō verbringt seine frühe Kindheit in den letzten Jahren des Tokugawa-Shogunats. Aufgrund der Ambitionen seiner Eltern erfährt der Stammhalter große Aufmerksamkeit, nicht ohne jedoch den Druck zu verspüren, diesen Erwartungen gerecht werden zu müssen.

Erinnerungen und Gedanken

“Ich wurde in der Stadt Tsuwano in der alten Provinz Iwami geboren. Die Stadt war von Bergen umgeben und diente als Sitz der Fürsten Kamei, die über ein Reiseinkommen von 43.000 koku verfügten. Im Winter rasten Wildschweine blindwütig durch die Straßen der Stadt. Wenn mein Vater ausging, griff er sich einen Bambusspeer. Mutter und ich dagegen blieben im Haus, schlossen die Läden und beobachteten durch einen Spalt, wie die wilden Tiere durch den Schnee stürmten.

Ōgai - Als ich vierzehn war / Watakushi ga jūshigo sai no toki (1909). Übers. H. Salomon

“Seit meiner Kindheit sagt man mir nach, ich lese gern. Ich kam in einer Zeit auf die Welt, als es weder Jugendzeitschriften noch die Kindergeschichten von Iwaya Sazanami gab. So las ich einfach alles, was mir in die Hände fiel: ob es nun die Gedichtsammlung ‘Hyakunin isshu’ war (meine Großmutter soll das Buch in ihrer Aussteuer mitgebracht haben) oder die Jōruri-Bücher aus der Zeit, da Großvater Gidayū-Gesang übte, oder bebilderte Kurzfassungen von Nō-Stücken.”

Ōgai - Krokus / Safuran (1914). Übers. W. Schamoni

“Ich ließ keinen Drachen steigen, spielte mit keinem Kreisel, bekam keinerlei emotionalen Kontakt zu den Nachbarskindern. Also vertiefte ich mich noch mehr in die Bücher. Und wie sich in einer Wohnung ganz von selbst Staub auf Vasen und Gefäße absetzt, so blieben die Namen aller möglichen Dinge in meinem Gedächtnis haften. Auf diese Weise wurde ich ein einseitiger Mensch, der die Namen der Dinge kennt, die Dinge selbst aber nicht.”

Ōgai - Krokus / Safuran (1914). Übers. W. Schamoni

“In dieser Familie stand der Vater für das Gefühl und die Mutter für den Verstand. Vater verwöhnte die Kinder, während Mutter streng mit ihnen war.

Ōgai - Stammfamilie und Zweigfamilie / Honke bunke (1915). Übers. H. Salomon

“Das Nachbargrundstück war unbebaut. Zwischen den Steinen und Dachziegeln, die dort herumlagen, blühten Bocksdorn und Veilchen. Ich begann, Bocksdornblüten zu pflücken. Nachdem ich das eine Weile getrieben hatte, fiel mir ein, daß tags zuvor ein Junge aus der Nachbarschaft gesagt hatte, Blumen zu pflücken schicke sich nicht für einen Jungen, und rasch blickte ich mich um und warf die Blumen fort. Zum Glück hatte mich keiner gesehen. Ich stand da wie benommen.”

Ōgai - Vita sexualis (1909). Übers. S. Schaarschmidt

“Mein Vater war ein sogenannter Holländischer Arzt. Irgendwann sagte er zu mir: ‘Ich will dir Holländisch beibringen’, und so lernte ich schon früh Schritt für Schritt etwas von dieser Sprache. Ich las eine ‘Grammatica’. Sie hatte zwei Teile: der erste Teil erklärte die Wörter, der zweite die Sätze. Dazu lieh mir mein Vater ein Lexikon. Es war ein holländisch-japanisches Wörterbuch, zwei große, dicke, japanisch gebundene Bände.”

Ōgai - Krokus / Safuran (1914). Übers. W. Schamoni

Biographische Ereignisse

1862

September 1862: Nishi Amane, ein Verwandter der Familie, reist im Auftrag des Shogu­nats in die Niederlande. Während seines mehrjährigen Aufenthalts studiert er u.a. in Leiden. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1865 wird er zu einem bedeutenden Vertreter der japanischen Auf­klärungsbewegung werden. 
  • Rintarō wird als erster Sohn der Familie Mori am 17. Februar (19. Tag des ersten Monats nach dem ehemaligen lunisolaren Kalender) geboren.

1863

August 1863: In der Bucht von Kagoshima liefern sich die britische Flotte und Streit­kräfte des Lehens Satsuma Gefechte.

1867

  • September: Der jüngere Bruder Tokujirō wird geboren. Später wird er von der Familie Miki adoptiert und macht sich als Theaterkritiker einen Namen.
  • Rintarōs Bildung beginnt mit dem Lesen und Auswendiglernen der “Gespräche” (Lunyu) des Konfuzius. In der japanischen Lesung des chinesischen Texts – zunächst ohne die Bedeutung zu klären – unterrichtet ihn Murata Yoshizane in seinem Heim. Murata lehrt auch an der fürstlichen Schule Yōrō Kan.

1868

3. Januar 1868: Die Regierungsgewalt des Kaisers wird restauriert, und die tiefgreifenden Reformen der frühen Meiji-Zeit leiten den Übergang zur Moderne ein.
  • Der Leiter der fürstlichen Schule, Yonehara Tsunae, der ebenfalls mit der Familie Mori verwandt ist, unterrichtet Rintarō in der Lektüre des konfuzianischen Texts “Meister Meng” (Mengzi).

1869

Juli–August 1869: Der Großteil der Fürsten gibt die Ländereien, mit denen sie vom ehema­ligen Shogunat belehnt wurden, an den Kaiser zurück und wird von der Regierung als Gouver­neure eingesetzt.
  • Rintarō wird in die fürstliche Schule aufgenommen. Neben den konfuzianischen Klassikern werden hier Landesstudien (kokugaku), Kampfkünste, chinesische und westliche Medizin sowie Mathematik unterrichtet.
  • Der Siebenjährige fällt durch seine intellektuelle Begabung auf und wird ausgezeichnet.
  • Von seinem Vater und einem weiteren Arzt in fürstlichen Diensten unterstützt, beginnt er mit dem Studium des Holländischen - lange Zeit die einzige europäische Sprache, die gelehrt wird. Holländische Sprachkenntnisse sind eine Voraussetzung, um westliche Medizin zu studieren.

1870

  • November: Rintarōs Schwester Kimiko wird geboren.

1871

August 1871: Die Militärärzte Leopold Müller und Theodor Hoffmann kommen in Japan an, um an der staatlichen Medizinschule in Tokyo eine Ausbildung nach deutschem Vorbild aufzu­bauen.
August 1871: Die kaiserliche Regierung erteilt den Befehl zur Auflösung der verbliebenen Fürs­tentümer. An ihrer Stelle werden Präfekturen eingerichtet.
  • Juni: Das Fürstentum Tsuwano wird aufgelöst. Kamei Koremi, der ehemalige Fürst von Tsuwano, übersiedelt in seine Residenz in der kaiserlichen Hauptstadt.
  • November: Die fürstliche Schule wird geschlossen.

1872

  • Juni: Der Vater Shizuo und sein Erstgeborener begeben sich nach Tokyo. Dort finden sie zunächst auf dem Anwesen der Kamei in Mukōjima eine Unterkunft.

Quellen

  • Bowring, Richard John: Mori Ōgai and the Modernization of Japanese Culture, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1979.
  • Kobori Kei’ichirō: Mori Ōgai: Nihon wa mada fushinchū da (Mori Ōgai: Japan ist noch im Umbau), Minerva Shobō 2013.
  • “Nenpu” (Chronik), Ōgai zenshū, vol. 38, Iwanami Shoten 1975: 545–58.
  • Rimer, J. Thomas: Mori Ōgai, Boston: Twayne Publishers 1975.
  • Schamoni, Wolfgang: Mori Ōgai: Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur, München: Bayerische Staatsbibliothek 1987.
  • Yamasaki Kuninori: Hyōden Mori Ōgai (Mori Ōgai. Eine kritische Biographie), Taishūkan Shoten 2007.
Zitierhinweis – Harald Salomon: “Mori Rintarō, alias Ōgai (1862–1922). Kindheit in Tsuwano”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 15. Dezember 2020. URL: https://www.ogai.hu-berlin.de/biographie-kindheit.html