Mori Ōgai im Licht der Gegenwart

Folgen 7–12 des Feature in der Tageszeitung Mainichi (Okt. 2019–März 2020)

© Mori-Ōgai-Gedenkmuseum, Tokyo, und Mainichi shinbun

Die Beiträge des zweiten Halbjahrs von Mori Ōgai im Licht der Gegenwart (Ima yomigaeru Mori Ōgai) präsentieren sich ebenso breitgefächtert wie die des ersten. Die Literaturwissenschaftlerin Mochida Nobuko argumentiert im Oktober-Artikel, dass Ōgai, der durch die Zeugnisse seiner Kinder als engagierter und liebevoller Vater bekannt ist, Schwierigkeiten mit seiner Rolle als Ehemann hatte. In der Erzählung Ein halber Tag (Hannichi, 1910), die innereheliche Konflikte thematisiert, und in einem hinterlassenen Brief sieht sie den außerordentlichen Druck verzeichnet, dem sich der Intellektuelle in seinen Ehen ausgesetzt sah. Der unvollendete Roman Asche (Kaijin, 1911–12), in dem die Zuneigung eines Mannes zu einem androgynen Jungen beschrieben wird, deutet die Autorin als Versuch, aus überkommenen Rollen­vorstellungen auszubrechen. Darunter ordnet sie auch Brüche mit japanischen Traditionen, beispielsweise bei der Namensgebung seiner Kinder.

Der Dichter Takahashi Utsuo hebt hervor, dass der als “Vater des modernen Romans” bekannte Ōgai vielmehr zunächst als “Vater der modernen Lyrik” an die Öffentlichkeit trat. In der Anthologie von Gedicht-Übersetzungen, Visionen (Omokage, 1889), die noch vor der Novelle Tänzerin erschien, habe er Pionierarbeit geleistet und auch in seiner frühen Prosaliteratur sei das Poetische deutlich wahrzunehmen. Takahashi zeigt, dass Ōgai eine ganze Bandbreite an lyrischen Formen beherrschte. Neben diesen Gedichten im neuen Stil und denen im chinesischen führt er auch Haiku an, die sich durch Witz und Eleganz auszeichnen. So zum Beispiel folgendes, in dem ein Naturbild, der schwindende Frühling, mit eintöniger bürokratische Arbeit kombiniert wird und so ein Gefühl der Frustration über schwindende, nicht fruchtbringend verbrachte Lebenszeit eindrucksvoll hervorgerufen wird.

⾏春を只べたべたと印を押す
Yukuharu o/ tada betabeta to/ in o osu
Der Frühling vergeht / und ich bedecke alles / mit nichts als Stempeln

Zitiert nach Ōgai zenshū, Bd. 19, 1907, S.568. Übers. Nora Bartels

Eine ganz eigene Perspektive auf Ōgais Literatur bringt der Literaturkritiker Kawamoto Saburō ein, der mithilfe des Spaziergang-Motivs in Die Wildgans (Gan, 1911–1913) und Nagai Kafūs Romanze östlich des Sumidagawa (Bokutō kidan, 1937) Klassen- und Geschlechterunterschiede kennzeichnet. Vor der Meiji-Zeit sei das ziellose Laufen durch die Stadt für Personen von öffentlichem Ansehen keine übliche Beschäftigung gewesen, da es mit Müßiggang gleichgesetzt und niederen Klassen zugeschrieben wurde. Die Wildgans, die in der frühen Meiji-Zeit spielt, zeigt dagegen einen Elite-Studenten, dem genügend Zeit zur Verfügung steht, um täglich dieser Tätigkeit nachzugehen.

Okada, ein Student, der frei spazieren gehen kann und O-Tama, die sich als Konkubine nicht frei bewegen kann – “Die Wildgans” zeigt deutlich den Unterschied zwischen Lustwandlern und denen, die diese Möglichkeit nicht haben. […] Und wie in “Die Wildgans” gehen Mann und Frau in “Romanze östlich des Sumidagawa” getrennte Wege. Die Welt des Spaziergängers “Watakushi” [der ich-Erzähler in Kafūs Text, Anm. d. Ü.] unterscheidet sich zu sehr von der, in der O-Yuki wohnt, die als Prostituierte wie ein im Käfig gefangener Vogel ist.

Kawamoto Saburō , Mainichi shinbun 14. 12. 2019, Übers. Nora Bartels

Der Schriftsteller Hayashi Nozomu lässt mit ausgewählten Zitaten stilistische Charakteristika der Werke Ōgais aufleuchten, wie zum Beispiel Wortreihenfolgen und Knappheit, die an chinesische Klassiker erinnern, oder die ans Pedantische grenzende Häufigkeit von Anleihen aus europäischen Fremdsprachen, die er mit keiner Erklärung versieht. Während diese Merkmale die Werke früherer Schaffensphasen schwer lesbar machten, kennzeichne spätere Veröffentlichungen, wie Hayashi statuiert, eine ganz eigene, elegante und schlichte Schreibweise. Den stilistischen Höhepunkt Ōgais sieht er in der literarischen Biographie Shibue Chūsai und nennt das Werk einen guten Orientierungspunkt für heutige Schriftsteller:innen.

Noch einmal greift die Schriftstellerin Asai Makate die etwas weniger bekannte Seite des hommes de lettre als Vater auf, geprägt durch liebevolle Sorge und persönlichen Einsatz, wie es in damaliger Zeit für Männer nicht selbstverständlich war. Sie führt an, dass Ōgai nicht, wie üblich, seine Kinder vor Fremden abgewertet, sondern sie im Gegenteil bestärkt habe, wenn sie von außen gelobt wurden. Diese Haltung wurde von Zeit­genossen als Verwestlichung missverstanden, sei jedoch im Gegenteil Edo-zeitliche Gepflogenheit. Ōgai verfocht, so Asai, eine gewaltlose Erziehung mit dem Kind im Mittelpunkt, die er auch in der Praxis umsetzte. Als Zeugnisse dienen ihr Briefe an seine Kinder und Memoiren der Kinder selbst.

Der Historiker Tsurumi Tarō beschließt das erste Jahr von Mori Ōgai im Licht der Gegenwart mit seinem Vergleich von philosophischen und literarischen Auffassungen zwischen Ōgai und Yanagita Kunio. Der berühmte Volksskundler Yanagita hatte sich in einem Gespräch dazu bekannt, am stärksten von Ōgai beeinflusst worden zu sein. Diese Einflüsse sieht Tsurumi beispielsweise in der bei beiden ausgeprägten Verflechtung von Literatur, Naturwissenschaft und Politik, aber auch bei den sich ähnelnden Ansichten über den Wert von Traditionen und Bräuchen. Yanagita kritisierte auf einer Tagung der japanischen Ibsen-Gemeinschaft die Tendenzen in den Werken des norwegischen Schriftstellers, gesellschaftliche Normen zu zerstören. Diese Aussagen sieht Tsurumi in unmittelbarer Abhängigkeit zu Ōgais Ansichten, die er in der philosophischen Erzählung Als ob äußert: Sie behandelt den stabilisierenden Wert auch solcher Traditionen, die vor den Augen der modernen Wissenschaft keinen Bestand haben.

Zitierhinweis - Nora Bartels: “Mori Ōgai im Licht der Gegenwart. Folgen 7–12 des Feature der Tages­zeitung Mainichi (Oktober 2019 - März 2020)”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 12. Juli 2021. https://www.ogai.hu-berlin.de/bildung-mainichi_2.html

Übersicht der Artikel Oktober 2019–März 2020

(7) Mochida Nobuko 持田叙子 [Literaturwissenschaftlerin]
“Katei seikatsu wa tatakai datta: Kekkon dasshutsu no yume” 家庭生活は戦いだった: 結婚脱出の夢 (Das Familienleben ein Kampf: Vom Traum, der Ehe zu entfliehen), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 12. Oktober 2019.
Behandelte Werke: Ein halber Tag (Hannichi, 1910), Asche (Kaijin, 1911-12)

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(8) Takahashi Mutsuo 高橋睦郎 [Lyriker und Essayist]
“Sugureta biishiki, kōsei ni megumi: Kindaishi no chichi” 優れた美意識、後世に恵み: 近代詩の父 (Ein Gabe an die Nachwelt von überragendem Schönheitssinn: [Ōgai als] Vater der modernen Lyrik), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 9. November 2019.
Behandelte Werke: Visionen (Omokage, 1889)

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(9) Kawamoto Saburō 川本三郎 [Literatur- und Filmkritiker]
“‘Sumu sekai chigau’ hiren monogatari: sanpo kara umareta meisaku” 「住む世界違う」悲恋物語: 散歩から生まれた名作 (“Aus unterschiedlichen Welten”: Meisterhafte tragische Liebesgeschichten, die aus Spaziergängen entstehen), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 14. Dezember 2019.
Behandelte Werke: Die Wildgans (Gan, 1911-13)

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(10) Hayashi Nozomu 林望 [Schriftsteller und Literaturwissenschaftler]
“Surarito kakuchōdakai kyōchi ni: Shiden monono bundai” すらりと格調高い境地に: 史伝ものの文体 (Auf gleichbleibend hohem Nivau: Der Stil [Ōgais] historischer Biographien), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 11. Januar 2020.
Behandelte Werke: Biographie von Shibue Chūsai (Shibue Chūsai)

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(11) Asai Makate 朝井まかて [Schriftstellerin]
“Kora o hitasura itsukushimu: Pappa to kodomotachi” 子らをひたすら慈しむ: パッパと子供たち (Mit hingabevoller Zuwendung: Der Papa und seine Kinder), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 8. Februar 2020.
Behandelte Werke: Memoiren von Mitgliedern der Familie Mori

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(12) Tsurumi Tarō 鶴見太郎 [Historiker]
“Yōroppa no hihanteki juyō: Yanagida Kunio e no eikyō” ヨーロッパの批判的受容: 柳田国男への影響 (Kritische Europa-Rezeption: [Ōgais] Einfluss auf Yanagita Kunio), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 14. März 2020.
Behandelte Werke: Als ob (Ka no yō ni, 1912)