Lebensabend

1917-1922 Ende 1917 wird Mori zum Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek des Hofministeriums ernannt. Obwohl er zunehmend unter gesundheitlichen Problemen leidet, versucht er neue Akzente in seinem Amt zu setzen und verbringt jährlich mehrere Wochen in der alten Hauptstadt Nara, um die antiken Objekte im Kaiserlichen Schatzhaus zu begutachten. Sein langjähriges Engagement für das Kulturschaffen findet auch darin seinen Ausdruck, dass er 1919 zum ersten Direktor der Kaiserlichen Akademie der Künste ernannt wird. Neben seinen öffentlichen Aufgaben widmet Mori sich bis in die letzten Lebensmonate insbesondere der Arbeit an historischen Biographien und Studien. Bevor er im Juli 1922 an Nieren- und Lungenleiden verstirbt, hält er testamentarisch den Wunsch fest, ohne staatlichen Ehren bestattet zu werden.

Erinnerungen und Gedanken

“Ich lese Bücher. Es sind alte, chinesische Bücher. Denn heutzutage sind europäische Bücher schwer zu bekommen, und die man bekommt, reden alle vom Krieg. Das ist die rezeptive Seite. Auf der anderen, der produktiven Seite, bringt mich die Beharrungskraft meines Schriftstellerlebens dazu, im Bereich von Lyrik und Geschichte mit knapper Not eine vita minima zu führen.”

Ōgai - Zwischenbilanz / Nakajikiri (1917). Übers. W. Schamoni

“Wenn man die literarische Welt mit dem Lager vor Troia vergleicht, so bin ich unversehens auf die Position des Nestor gehoben worden. Das ist keine Position, nach der ich mich gesehnt habe. Ich führe bereits zu lange das amphibische Leben eines Frosches. Ich möchte heim! Ich möchte heim, ehe die Eisenhämmer der hitzigen jungen Leute auf meinen Kopf niedergehen.”

Ōgai - Frosch / Kaeru (1919). Übers. W. Schamoni.

“Es ist die Frage, was besser ist: Dieses Werk [über die Jahresdevisen] aufgeben und ein Jahr länger atmen, oder weitermachen und sich ein Jahr früher von der Welt verabschieden? Ich habe außerdem Zweifel, ob es mein Leben verlängern würde, wenn ich die Lust zu schreiben aufgäbe. Hieraus ergibt sich mein Entschluß, mich von keinem Arzt, wie berühmt er auch sei, untersuchen zu lassen.”

Ōgai - Aus einem Brief an den Freund Kako Tsurudo (1922). Übers. W. Schamoni

“Der Tod ist ein schwerwiegendes Ereignis, das allem ein Ende setzt. Keine Staatsmacht und keine Autorität vermag, so bin ich überzeugt, ihm zu widerstehen. Ich wünsche als Mori Rintarō aus der Provinz Iwami zu sterben. Obgleich ich sowohl zum Kaiserlichen Hofministerium als auch zum Heer in Verbindung gestanden habe, lehne ich in diesem Augenblick zwischen Leben und Tod alle äußerlich-formelle Behandlung ab. Ich wünsche als Mori Rintarō zu sterben. Auf meinem Grabstein soll nichts stehen außer ‘Grab des Mori Rintarō’.”

Ōgai - Das Testament / Yuigon (1922). Übers. W. Schamoni

Biographische Ereignisse

1917

  • Dezember: Ernennung zum Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek des Hofministeriums.

1918

1. Juli 1918: Der Schriftsteller Suzuki Miekichi gibt die erste Ausgabe der Zeitschrift für Kinder­literatur “Roter Vogel” (Akai tori) heraus. Die Zeitschrift wird annähernd zwei Jahrzehnte mit den Beiträgen namhafter Autoren und zahlreicher Kinder erscheinen.
August–September 1918: In Japan brechen landesweit gewalttätige Proteste gegen die stark angestiegenen Reispreise aus.
29. September 1918: Der Christ Hara Takashi bildet als erster bürgerlicher Premierminister das erste Parteienkabinett. Er bildet ein Kabinett, dem fast ausschließlich Parteipolitiker ange­hören. 
  • Januar: Ernennung zum “außerordentlichen Amtsträger” (goyō gakari) im “Beratungsausschuss für die Organisation des Kaiserhauses” (Teishitsu Seido Shingikai), in dem rechtliche Maßnahmen zur Gestaltung des kaiserlichen Hofsystems erörtert werden. Mori wird in dem Organ bis 1922 mitwirken.
  • Februar: Mori wird Berater im “Verband zur Bewahrung historischer Stätten, landschaftlich [bedeutender] Orte sowie von Naturdenkmälern” (Shiseki Meishō Tennen Kinenbutsu Hozon Kyōkai). Das gleichnamige Denkmalschutzgesetz wird im folgenden Jahr erlassen.
  • März: Berater im “Japanischen Kunstverein” (Nihon Bijutsu Kyōkai).
  • August: Ernennung zum Mitglied in der “Gesellschaft zur Bewahrung alter Schreine und Tempel” (Ko Shaji Hozon Kai). Mitwirkung bis zum Lebensende im Jahr 1922.
  • November: Mehrwöchige Fahrt nach Nara, um die Objekte im Kaiserlichen Schatzhaus (Shōsōin) zu begutachten, die einmal pro Jahr gelüftet und für ausgewählte Besucher ausgestellt werden.
  • Dezember: Eine schwere Erkrankung zwingt Mori zur wochenlangen Ruhe.

1919

18. Januar 1919: Die Pariser Friedenskonferenz beginnt. Unter der Leitung des ehemaligen Premierministers Saionji Kinmochi verhandelt die japanische Delegation über die Territorien des Deutschen Reichs in Ostasien und im Pazifik. Zudem setzen die Delegierten sich dafür ein, das Prinzip der “Rassengleichheit” in die Satzung des Völkerbunds aufzunehmen. Den Bemü­hun­gen ist allerdings kein Erfolg beschieden. [“Mißstimmung in Japan”, Vossische Zeitung]
4. Mai 1919: Nachdem während der Friedensverhandlungen in Paris deutlich wird, dass die Alliierten weder die Ungleichen Verträge aufheben noch Japans Forderungen gegenüber China zurückweisen werden, versammeln sich in Beijing protestierende Studieren. Die schichtenüber­greifende “Bewegung des vierten Mai” entsteht.
5. September 1919: Gründung der Kaiserlichen Akademie der Künste  (Teikoku Bijutsu In).
  • Januar: Unter Moris Leitung wird die “Kommission zur Redaktion der Sechs Reichschroniken” (Rikkokushi Kōtei Junbi I’inkai), der ältesten Geschichtswerke Japans, eingerichtet.
  • August: Das erste Kind des ältesten Sohnes Otto wird geboren. Für seinen ersten Enkel wählt Mori den Namen Max (Makusu). Der Bezug zum Münchner Lehrer Max von Pettenkofer ist deutlich.
  • September: Ernennung zum ersten Präsidenten der Kaiserlichen Akademie der Künste.
  • Oktober: Mori begibt sich für einige Wochen nach Nara, um die Objekte im Kaiserlichen Schatzhaus zu begutachten.
  • November: Die älteste Tochter Mari heiratet den Romanisten Yamada Tamaki (1893–1942).

1920

10. Januar 1920: Der Völkerbund bildet sich. Japan zählt zu den Gründungsmitgliedern.
Februar–März 1920: Im Raum der sibirischen Stadt Nikolajewsk treffen Partisanen und Teile der japanischen Interventionskräfte aufeinander.
  • Januar-Februar: Ruhephase wegen eines Nierenleidens.
  • April: Ende des Monats berichtet Mori in einem Brief an den langjährigen Freund Kako Tsurudo, dass er nun an einer “Studie über die Ära-Namen” (Gengō kō) arbeite. Obwohl für die kaiserlichen Regierungsperioden seit den Meiji-Reformen nur jeweils ein Name vergeben werde, seien die Entscheidungen für “Meiji” und “Taishō” ohne ausreichende Recherche erfolgt. Mit seiner historischen Studie der Quellen der Devisen und ihrer Verwendung in den Dynastien Ostasiens soll die Grundlage für eine sorgfältige Wahl in Zukunft legen.
  • Oktober: Die fortlaufende Veröffentlichung der historischen Erzählung “Das letzte Lebensjahr des [Hōjō] Katei” (Katei shōgai no sue ichinen) in der Zeitschrift Araragi (“Eibe”) beginnt (bis November 1921).
  • Teilnahme an Lesungen der Diamant-Sutra im Tempel Zenshō-an in Tokyo.
  • November: Das erste Kind der Tochter Mari kommt zur Welt. Der Junge erhält den Namen Jaku (Jacques).
  • Reise nach Nara zur Begutachtung der Objekte im Kaiserlichen Schatzhaus.

1921

1. Oktober 1921: Die Zeitschrift “Denken” (Shisō) des Verlags Iwanami erscheint erstmals.
4. November 1921: Premierminister Hara Takashi fällt einem Attentat zum Opfer. [“Minis­ter­präsident Hara ermordet”, Vossische Zeitung]
  • März: Die “Studie über die posthumen Namen der Kaiser” (Teishi kō) erscheint.
  • April: Mori verabschiedet seinen Schwiegersohn Yamada Tamaki, der sich zum Studium nach Paris begibt.
  • Teilnahme an Lesungen der Diamant-Sutra im Tempel Zenshō-an in Tokyo.
  • Juni: Ernennung zum Leiter der “Außerordentlichen Kommission zur Untersuchung der Landessprache” (Rinji Kokugo Chōsakai).
  • November: “Aus einem alten Notizbuch” (Furui techō kara) wird bis Juli 1922 in der Zeitschrift “Morgenstern” (Myōjō) veröffentlicht.

1922

6. Februar 1922: Die internationale Konferenz in Washington zur Begrenzung der Marine­rüstung endet. In seiner abschließenden Rede kündigt der US-amerikanische Präsident Harding eine neue, von den “Fackeln der Völkerverständigung” erhellte Ära in der Geschichte der Welt an [“Der Konferenzschluß in Washington”, Vossische Zeitung]
28. August 1922: Die japanische Regierung zieht die Interventionsstreitkräfte aus Sibirien zurück.
  • Januar: In der Zeitschrift Myōjō erscheinen “Fünfzig Gedichte aus Nara” (Nara gojū shu).
  • März: Die Kinder Oto und Mari verabschieden sich zum Studium nach Europa. Mari verbringt ein Jahr in Paris, während Oto sich nach Berlin begibt.
  • April: Annu, die zweite Tochter, tritt in die Französisch-Englisch-Japanische Oberschule für Mädchen (Futsu Ei Wa Jogakkō) ein.
  • Mori reist nach Nara, da der englische Kronprinz die Kaiserliche Schatzkammer besuchen möchte.
  • Juni: Ab Mitte des Monats verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand stark. Die Amtgeschäfte im Kaiserlichen Hofministerium nimmt nun sein Mitarbeiter Yoshida Gakken (Masuzō) wahr. Seit Ende Juni führt Yoshida auch das private Tagebuch und erhält den Auftrag, die Studie über die Ära-Namen zu Ende zu führen.
  • Juli: Mori diktiert dem Freund Kako Tsurudo sein Testament. Er verstirbt im Haus Meerblick (9. Juli). Die Bestattung findet im Tempel Kōfuku Ji im Stadtteil Mukōjima, Tokyo, statt.

Quellen

  • Bowring, Richard John: Mori Ōgai and the Modernization of Japanese Culture, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1979.
  • Kobori Kei’ichirō: Mori Ōgai: Nihon wa mada fushinchū da (Mori Ōgai: Japan is still under construction), Minerva Shobō 2013.
  • “Der Konferenzschluß in Washington”, Vossische Zeitung 64, 7. Februar 1922: 3. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • “Ministerpräsident Hara ermordet”, Vossische Zeitung 522, 5. November 1921: 1. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • “Mißstimmung in Japan”, Vossische Zeitung 237, 11. Mai 1919: 3. [ZEFYS - Staatsbibliothek zu Berlin]
  • “Nenpu” (Chronik), Ōgai zenshū, vol. 38, Iwanami Shoten 1975: 545–58.
  • Rimer, J. Thomas: Mori Ōgai, Boston: Twayne Publishers 1975.
  • Schamoni, Wolfgang: Mori Ōgai: Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur, München: Bayerische Staatsbibliothek 1987.
  • Yamasaki Kuninori: Hyōden Mori Ōgai (A critical biography of Mori Ōgai), Taishūkan Shoten 2007.
Zitierhinweis – Harald Salomon: “Mori Rintarō, alias Ōgai (1862–1922). Lebensabend”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 15. Dezember 2020. URL: https://www.ogai.hu-berlin.de/biographie-lebensabend.html